Widerruf des Pilatus?

Hätte ich, Pilatus, die kommenden zwei Jahrtausende vorausgeahnt, ich hätte anders über JESUS geurteilt, den „König der Juden“. Doch zuerst habe ich meine Frau Procula nicht ernstgenommen.

Mitten in die Gerichtsverhandlung hinein ließ Procula mir durch einen Boten ausrichten: „Laß die Hände von diesem Mann. Er ist unschuldig. Seinetwegen hatte ich heute Nacht einen schrecklichen Traum“ (Mt 27,19). Verärgert saß ich auf dem Richterstuhl. Die Warnung Proculas tat ich ab als Weibergespinst trotz der Wunder, die man schon immer von diesem JESUS erzählt hat. Ich habe vor allem an meine Karriere gedacht, als die bestellten Anhänger der Hohenpriester schrieen: „Wenn du diesen freiläßt, bist du kein Freund des Kaisers. Jeder, der sich selbst zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser“ (Joh 19,12). Von der Schuld dieses JESUS war ich selbst nicht überzeugt. Ich ahnte, daß die Hohenpriester ihn mir aus Mißgunst und Neid überliefert hatten (Mk 15,10), weil er ihnen das Volk abspenstig machte. Wiederholt habe ich auf sie eingeredet, um JESUS freizubekommen (Lk 23,20). Nicht nur sein Schweigen auf falsche Anklagen und seine Furchtlosigkeit haben mich von seiner Unschuld überzeugt. Unentwegt aber schrie die aufgehetzte Menge: „Kreuzige ihn!“ (Mk 15,13).

„Ab zu Herodes!“

Als ich merkte, der Angeklagte ist Galiläer, nahm ich eine diplomatische Ausflucht zu Hilfe und schickte JESUS zu Herodes, dem König von Galiläa. Herodes war gerade in Jerusalem. Doch die von Herodes erhoffte Freilassung des Todeskandidaten blieb aus. Im Spottkleid schickte er JESUS zu mir zurück (Lk 23,11). Aber dieser JESUS hat mich innerlich erschüttert. Kühn und frei sprach er mit mir, während andere Angeklagte um Gnade winselten. Er bekannte sich als „König der Wahrheit“ (Joh 18,37), während ich nur kläglich zurückfragte: „Was ist Wahrheit? Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen?“ (Joh 19,10). Da antwortete er nur: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.“ Zugleich aber fügte er zu meiner Entlastung an: „Darum trifft größere Schuld den, der mich dir ausgeliefert hat.“

Appell an das Mitleid

Daß dieser Todeskandidat mich noch selbstlos aufgewertet hat, hat mich doch sehr erschüttert. Von diesem Augenblick an suchte ich erst recht, ihn freizulassen. Doch die Menge wurde immer wilder. JESUS drehte sogar das Verhör um und stellte  m i  r  Fragen: „Sagst du das von dir aus? Oder haben es dir andere über mich gesagt?“ (Joh 18,34). Ich appellierte an das Mitleid der Menge, hatte JESUS schon geißeln lassen, um ihm den Tod zu ersparen. Er sah schrecklich aus, blutüberströmt, mit Dornenkrone auf dem Kopf (Joh 19,2). Mit einem Purpur-Mantel machten ihn meine Soldaten zum Spottkönig. Mitleiderregend, selbst für mich, den hartgesottenen Prokurator.

„Ecce homo!“

„Seht, welch ein Mensch!“ rief ich der Menge zu, um ihr Mitleid zu entlocken. Doch umsonst. Die Hauptschreier wurden lauter: „Er hat sich als Sohn Gottes ausgegeben. Wir haben ein Gesetz. Nach diesem muß er sterben!“ (Joh 19,7). Nun bekam ich es erst recht mit der Angst. Im Prätorium fragte ich den Halbtoten: „Woher stammst du?“ Er aber würdigte mich keiner Antwort, erinnerte nur an die Macht von oben. So reizte ich die brodelnde Masse: „Seht euren König!“ Die Hohenpriester schrien zurück: „Wir haben keinen König als den Kaiser!“ Nun kapitulierte ich endgültig und lieferte ihnen JESUS aus. Durch mein feiges Urteil habe ich den Lauf der Weltgeschichte entscheidend mit verändert. Vergeb­lich suche ich immer noch, meine Hände in Unschuld zu waschen. Vergeblich! Nur JESUS selbst kann mich reinwaschen – trotz meines Versagens.
Pfr. Winfried Pietrek

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