Weihnachtliches Blau von Chartres

Wer Paris besucht, darf Chartres, 75 km südwestlich der Hauptstadt, nicht übergehen. Das Städtchen mit den verwinkelten Gassen ist gigantisch überragt von der zum Welt-Kultur-Erbe gehörenden, ältesten, am besten erhaltenen gotischen Kathedrale. Erstaunlich, bei nur 40 000 Einwohnern: Notre-Dame de Chartres (130m x 64m), der Dom „Unserer (lieben) Frau“, Frauenkirche, erbaut in nur 26 Jahren.

Als 1194 die romanische Kirche der Stadt niederbrennt, eilen Tausende von Freiwilligen herbei, um beim Neubau zu helfen. Denn hier ist die Tunika Marias aufbewahrt, das Kleid, das sie trägt, als Gottes Geist sie durchflutet. „Bei Gott ist ja kein Ding un­möglich!“ sagt der Engel Gabriel (Lukas 1,37). Die Tunika wird gerettet, letztlich aber geht es um Jesus. An den 9 Portalen warten 4000 steinerne Gestalten, die „Bibel der Armen“, auf Beter, die nur Bilder lesen können.

Millionen Kosten

Die 176 Fenster, der einzigartige Schatz von 2.600qm, sind vor allem von Zünften gestiftet: Das weihnachtliche Blau von Chartres! Eine Fensterrose ist gleich 13m breit. Hierher proben Tausende von Pilgern Jahrhunderte lang die späteren Wallfahrten nach Lourdes (ab 1858).

Die Ausstrahlung der Kathedrale ergreift. Cathedra, der Bischofssitz zum Lehren, wie schon der 12jährige Jesus lehrend mitten unter den Lehrern Israels im Tempel sitzt (Lukas 2,46). Der „Lehrstuhl“, wie ihn heute noch jeder Dom, jedes Münster besitzt, den auch die Universitäten übernehmen, ja sogar die Schulen mit jedem Katheder. Mose ist wohl der erste, der 1.250 Jahre vor Jesus einen Lehrstuhl hat (Matthäus 23,2), eine Kanzel, gebaut im Vertrauen, daß auf dem Geistlichen der Geist Gottes ruht. Der größte Lehrstuhl: Berninis Verhüllung der Cathedra in Sankt Peter in Rom. Mittel zum Bau der Kathedrale kommen von vielen „kleinen Leuten“: Einer vermacht sein Erbe. Ein anderer stiftet Waren für einen Basar. Bauern karren Bau-Material heran.

Da steht der Tote auf

Ein Deutscher, Bruno von Köln (1101), hat Anteil. Nahe der Stadt, im Felsengebiet, gründet er die erste Chartreuse, zu deutsch: Kartause, den strengsten Orden überhaupt. Ein erschütterndes Erlebnis hat ihn und seine Gefährten dazu bewegt.

Bruno und seine Freunde sind anwesend, als ein angesehener Dom­herr beerdigt wird. Plötzlich richtet sich der Aufgebahrte kurz auf und ruft: „Ich bin verdammt!“ Das Ereignis wiederholt sich … Von nun an richten sich diese Männer ganz auf Gott hin aus. Zwar holt Papst Urban II. Bruno von Chartres als Berater nach Rom. Doch dieser kann den Le­benswandel an der Kurie nicht ertragen und kehrt zurück in die Einsamkeit. Kein Wunder, daß in den folgenden Jahrhunderten wiederholt gegen Kartausen an­gegangen wird. Fast alle 126 Klöster löscht die Französische Revolution aus.

Doch 18 Kartausen blühen neu auf, je eine von ihnen in der Schweiz und in Deutschland (88 410 Bad Wurzach). Rings um die kleine Kirche stehen die winzigen Garten-Häuschen der vegetarisch und oft fastend lebenden Einsiedler. Jeder betet täglich 5 bis 6 Stunden und widmet sich 3 Stunden anderer Arbeit. Einmal wöchenlich unternimmt die Gemeinschaft einen vierstündigen Spaziergang. Die 250 Mönche und 200 Laienbrüder weltweit verstehen ihr Bußleben als Zeugnis für Christus. Seit bald 800 Jahren halten sie unbeirrt am Schweigen, am nächtlichen Gebet und der klassischen Liturgie fest und ermutigen Gläubige durch Exerzitien. Auch 6 Klöster von Kartäuserinnen haben sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet.

Deutsche Kriegsgefangene

1945 bis 1947 empfängt Chartres 600 kriegsgefangene deutsche Theologen. Sie werden hier auf ihre Priesterweihe vorbereitet. Rektor ist Franz Stock, 10 Jahre lang Pfarrer der deutschen Gemeinde in Paris. 1941 wird er Seelsorger politischer Häftlinge in Pariser Gefängnissen. Mehr als 2000 Verurteilte stärkt er, bevor sie hingerichtet werden.
Pfarrer Winfried Pietrek

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